Die Referenz: Micro-Nikkor 55/2,8 AIS

Wenn ein technisches Gerät seit vierzig (40!) Jahren unverändert gebaut wird, dann ist es schon etwas ganz besonderes. Es ist ein Zeichen dafür, daß dem Hersteller etwas ganz Ungewöhnliches gelungen ist.

Im Jahr 1979 (in Nicaragua tobt die Revolution, in der Bundesrepublik wird Franz-Josef Strauß Kanzlerkandidat) erblickte das Nikon Micro-Nikkor 55/2,8  das Licht der Welt. Wie konnte es zu einem derartigen Klassiker werden, daß es heute noch neu erhältlich ist? Nun, die Nikon-Ingenieure nahmen ein sehr gutes Objektiv (das Micro-Nikkor 55/3,5) und machten es noch besser. Die Lichtstärke wurde um eine halbe Blende erhöht, um die Gefahr des Abdunkelns des Schnittbild-Entfernungsmessers zu minimieren. Aber das ist noch nicht das ausschlaggebende.

Herkömmliche Objektive sind meist für einen bestimmten Entfernungsbereich optimiert. Ein normales Nikkor 50/1,4 erzielt hervorragende Ergebnisse im Fernbereich und ist auf hohe Lichtstärke optimiert. Im Makrobereich zeigt es deutliche Schwächen. Das ältere Micro-Nikkor 55/3,5 war auf den Makrobereich optimiert, im Fernbereich liess es etwas nach. Beim völlig neukonstruierten Micro-Nikkor 55/2,8 wandten die Konstrukteure einen damals neuartigen Trick an:  zur Scharfstellung wurde nicht einfach die gesamte Optik vor- und zurückbewegt. Nein, innerhalb des optischen Systems wurden zusätzlich einige Linsen in genau definiertem Maße verschoben. Dieser hohe mechanische Aufwand hat sich gelohnt: so konnte eine hervorragenden Abbildungsleistung über den gesamten Entfernungsbereich, vom Makro bis unendlich, erreicht werden.

Diese Konstruktionsweise wurde von Nikon „CRC“ genannt, Close-Range-Correction oder Nahbereichskorrektur. Fachleute sprachen auch von „Floating Elements“. Zusätzlich erhielt das Objektiv die neuentwickelte NIC-Vergütung („Nikon Integrated Coating“ – ein proprietäres mehrschichtiges Linsenbeschichtungsverfahren von Nikon für ihre Objektive auf Luft-Glas-Oberflächen, um einen hohen Bildkontrast zu erhalten und Streulicht bei großen Objektivblenden zu minimieren). Die Behandlung mit NIC ermöglichte auch eine einheitliche optische Qualität und eine hervorragende Farbwiedergabe über das gesamte Spektrum hinweg.

Das Micro-Nikkor 55/2,8 AIS (eine AI-Vorgängerversion wurde nur wenige Monate gebaut) ist derartig gut gelungen, daß es zur Referenz wurde. Es erzeugt im gesamten Entfernungsbereich extrem scharfe Bilder.  Bildfeldwölbung und  Verzeichnung wurden ebenfalls weitestgehend auskorrigiert – ein Grund, warum es auch sehr gut für Reproduktionen genutzt werden kann.

Das hervorragend bewertete Objektiv kann ohne weitere Hilfsmittel ein maximales Vergrößerungsverhältnis von 1:2 (0,5X) erreichen. Mit einem passenden Zwischenring PK-13 kann das Verhältnis 1:1 erreicht werden – oder auch in Kombination mit einem 2X-Telekonverter wie TC-200 oder TC-201. Die Entfernungsskala des Objektives ist darauf bereits vorbereit und weist entsprechende Gravuren auf. Wenn Sie noch höhere Vergrößerungen erreichen möchten, ist dieses Objektiv bestens für ein Balgengerät wie das Nikon PB-6 geeignet. 

Das Micro-Nikkor 55/2,8 ist also ein echtes Universalobjektiv, auch wenn es nicht hochlichtstark ist. Dafür bietet es höchste optische Qualität und auch eine mechanische Verarbeitung, die es zu einer Freude macht, damit zu arbeiten. Mit der ohnehin im Makrobereich sinnvolleren manuellen Scharfstellung lässt es sich gut an vielen digitalen Nikon-SLRs verwenden, hier mehr dazu. Und es passt natürlich auch an alle anlogen Nikons seit 1959. Eine Sonnenblende wird durch die tiefliegenden Linsen nicht benötigt, der Filterdurchmesser beträgt 52mm.

Wie gesagt, das Micro-Nikkor 55/2,8 AIS ist noch nagelneu zu erwerben, zum stolzen Preis von ca. 600 EUR. Beim günstigeren Gebrauchtkauf ist allerdings höchste Vorsicht angebracht. Ein bei diesem Objektiv ganz typisch auftretendes Phänomen ist eine sehr schwer laufende Entfernungseinstellung. Aus welchen Gründen auch immer, die komplizierte Helikoid-Mechanik ist recht anfällig für verharzende Schmierstoffe. Das kann bis zur völligen Blockade führen – eine Reparatur ist aufwendig, denn das ganze Objektiv muss zerlegt werden.  Nun gibt es aber offenbar ganz schlaue Zeitgenossen, die sich das sparen wollen und stattdessen die Fokusiergewinde grosszügig mit Öl behandeln. Ein schwerer Fehler, denn dieses Öl wandert mittelfristig auf die Blendenlamellen und verklebt diese –  was zu fehlbelichteten Bildern führt. Die verölte Blende ist ein zweites typisches Problem beim 55/2,8 AIS. Achten Sie also beim Kauf auf einen geschmeidigen Fokuslauf und eine trockene Blende. Meine Empfehlung: kaufen Sie das Objektiv im guten Fachhandel. Die bei Nikonclassics angebotenen Objektive sind natürlich in einem geprüften und einwandfreien Zustand.

Zum Schluss noch der Kommentar eines Käufers: „Dieses Makroobjektiv von Nikon ist ein Klassiker und überzeugt in jeder Hinsicht durch bestechende Qualitäten. Solides Präzisionsgehäuse aus Metall made in Japan. Das Objektiv liefert extrem scharfe Bilder mit klaren Farben und kontrastreichen Detaills. Das Bokeh ist traumhaft. Wer Makrophotographie liebt und mit Nikon arbeitet, der wird (wahrscheinlich) auch dieses Objektiv lieben. Es ist eines meiner Lieblingsobjektive. Trotz fehlender Autofokusfunktion oder vielleicht gerade deswegen macht das Photographieren unglaublich viel Freude: Zen in der Kunst des Scharfstellens – neue Augen-Blicke.“

Die Bilder auf dieser Seite wurden übrigens auch mit dem besprochenen Objektiv fotografiert. Schauen Sie sich gerne die Vergrößerungen an! Und wenn Sie wissen wollen, wie sich dieses Objektiv im Fernbereich schlägt, schauen Sie sich diese Bilder an!

9 Gedanken zu „Die Referenz: Micro-Nikkor 55/2,8 AIS

  1. Ingo Müller

    Nun ja, das mit der ölverschmierten Blende hätte ich früher wissen wollen. Das Öl wandert langsam. Die Blende meines Exemplars war unmittelbar nach dem Kauf trocken und funktionierte einwandfrei. Ein Jahr später verweigerte sie den pünktlichen Dienst und ist nun stark eingeölt. Und liege ich damit richtig, dass sich eine Reparatur nicht lohnt, da ja jetzt Helikoid und Blende betroffen sind? Ein Ersatz bei Nikonclassics zu erwerben würde vielleicht 200 € kosten. Vermutlich weniger als eine Reparatur. Aber auch für das Ersatzobjektiv kann niemand garantieren, denn nicht immer ist das Öl schon beim kauf auf der Blende zu sehen.

    Lieber Herr Michalke,
    als Vorschlag für einen zukünftigen Artikel in Ihrem Blog würde ich mir eine Zusammenfassung bekannter Schwachpunkte von Kameras und Objektiven wünschen. Zwar weisen Sie stets bei Einzelbesprechungen darauf hin, aber eine Übersicht in einem Beitrag wäre sicherlich sehr hilfreich.
    Viele Grüße

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  2. Hermann Groeneveld

    Guten Tag Herr Michalke,
    besten Dank für diesen ausführlichen Bericht.
    Ich suche ein Objektiv zum Digitalisieren meiner analogen KB und MF (6×6) Filme, überwiegend SW.
    Dabei möchte ich allerdings meine Fuji X-T2 einsetzen – müsste also das Micro Nikkor mit einem Adapter adaptieren, was technisch möglich wäre.
    Würden Sie dazu raten? Da die Fuji einen APS-C Chip verwendet, kann ich KB mit dem Nikkor ohne Zubehör formatfüllend auf den Chip bringen? Oder benötige ich einen Zwischenring?
    Schöne Grüße und Danke im Voraus für Ihre Einschätzung
    Hermann Groeneveld.

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  3. Christoph

    Hallo liebe Alt-Nikonianer, hier ein kleines Trostpflaster: Mein 55er-Makro erwarb ich vor ca. 24 Jahren gebraucht für 129,- DM (wer weiss, wie alte es ist) und es gbt KEINE Probleme, weder mit Einstellschnecke noch mit „Ölwanderung“. Allerdings hatte ich letztes bei meinem 2,8/28mm AIS mal vor langer Zeit. Das wurde vom Nikon-Dienst gut repariert. – Viel Freude weiterhin mit den alten tollen Festbrennweiten!
    Christoph

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  4. Michael Broda

    Guten Abend, dies soll kein Kommentar sein, sondern eine Frage. Novoflex bietet einen Konverter an, um das micro nikor 2,8 55 mm an der Hasselblad X1d zu verwenden.
    Meine Frage lautet : Wie groß ist eigentlich der Bildkreis der o. g. Obtik?
    Vielen Dank, im voraus.
    Michael Broda

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  5. Bernd Bodtländer

    Ich besitze dieses Objektiv seit 1981. Es war im Laufe der Jahre zweimal wegen verölter Blendenlamellen in Reparatur. Irgendwann las ich mal, dass das Öl über lange Zeiträume aus der Einstellschnecke gelaufen kommt. Seitdem lagere ich es stehend mit dem Bajonett nach oben. Das gleiche Problem gibt es auch mit dem AI 24/2,8, das ebenfalls über die CRC Naheinstellkorrektur verfügt.

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  6. Starend

    Auch ich kann über das 2,8/55 Micro Nikkor Objektiv nur gutes schreiben. Ich habe meines 1982 noch als Bundeswehrsoldat neu gekauft. Anschließend habe ich Fotografie studiert und bin dann schliesslich Fotojournalist geworden. Das kleine Macro hat mich seit dem immer irgendwie begleitet. Es ist wirklich so gut wie immer beschrieben. Als Student habe ich es sogar lange als Vergrößerungsobjektiv benutzt. Die irrsinnigste Anwendung war aber es als Lupenobjektiv an einer 13×18 Sinar zu verwenden um damit eine Aspirin – Tablette zu fotografieren. Es gehörte auch lange zu meiner universal – minimal Ausrüstung und war mit unter Tage, in der Luft, auf der einsamen Insel, auf hohen Bergen und im ewigen Eis. Es stimmt das sich mit der Zeit das Öl auf der Blende ansammelt, ungefähr alle vier Jahre ist es so weit. Die ersten Male habe ich das Objektiv immer zu Nikon in Reparatur gegeben und richtig Geld dafür gezahlt, mittlerweile gibt es aber sehr gute Reparaturanleitungen dafür im Internet. Das geht problemlos in zwei Stunden. Auch wenn mein Objektiv mittlerweile etwas in der Fassung schlackert ist es immer noch gut genug mir ab und an aus der Patsche zu helfen.

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  7. Michael Gehrke

    Ich kann „Starend“ sinngemäß beipflichten bezüglich der Reparaturfreudigkeit dieses Objektives! Ich bekam die Optik bereits verölt, nachdem sie ungenutzt mindestens 20 Jahre auf einem Dachboden gelagert war. Das Öffnen der Mechanik und die „Entölung“ waren so einfach gehalten, dass ich mich echt gewundert hatte…
    Nach etwa zwei ruhigen Stunden hat man ein wieder einwandfreies Objektiv in der Hand, dessen Qualität wirklich eine Ausnahme darstellt. Ich nutze es u.a. adaptiert an einer GH5 zum Scannen von Negativen einer Mamiya C220 (Mittelformat TLR) und natürlich auch meiner Kleinbildnegative einer F3.

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  8. Reinhart Reuschel

    Bei dem weit verbreiteten 2.8/55 kamen öfters Defekte vor, auch bei meinen Exemplaren, sodass ich wieder zurück zum möglicherweise solideren 3.5/55 ging und bis heute ein Exemplar von 1970 benutze. Ich benutze es auch gern an der D300, was bei Crop Factor 1.5 eine Brennweiten-Anmutung von 82.5mm ergibt und damit ein sehr schönes Makro-Tele-Universal;-))

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